Auszüge aus dem Zeitartikel „Das Leben ist ein Nanofilm“ von Paul Janositz
Die Chemie-Nobelpreisträger 2013 sind Regisseure. Dank ihrer Simulationstechnik ist die Biochemie, die unsichtbar in unserem Körper abläuft, wie ein Film abspielbar.
Sehen, Hören, Schmecken oder Fühlen – damit wir all das können, wird in unserem Körper ununterbrochen gearbeitet. Biochemische Nano-Maschinen, komplexe Proteine, machen diesen Job. 24 Stunden am Tag. Blitzschnell. Von außen unsichtbar.
Während sie schuften, sind sie ständig in Bewegung. Jede dieser Nano-Maschinen macht etwas anderes und sieht entsprechend anders aus: Ihre Faltung, ihre komplexe Struktur ist entscheidend, damit sie ihre Aufgaben richtig erfüllen können.
Aber wie soll man diesen 24-Stunden-Job der Proteine in einem menschlichen Körper erforschen? Hineingucken ist auf der Nanoebene schwierig. Die Abläufe sind so unglaublich schnell, dass man ohnehin nur eine Momentaufnahme bekäme. Genau hier setzt das Computermodell an, das die diesjährigen Nobelpreisträger in Chemie entwickelt haben. Es simuliert die Biochemie auf atomarer Ebene, quasi in Echtzeit und sehr genau. Ist der Aufbau und die chemische Struktur der Nano-Maschinen bekannt, kann man nämlich ziemlich genau berechnen, wie sie chemisch reagieren.
Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel schafften es, die Rechenmethoden dafür drastisch zu vereinfachen und dennoch genaue Ergebnisse zu erhalten.
Martin Kaupp, Professor für Quantenchemie an der TU Berlin, hat Karplus, den "großen, alten Mann der Theoretischen Chemie" während eines Studienaufenthalts in den USA bei einem Vortag getroffen und später häufig auf Konferenzen, ebenso wie Levitt und Warshel. Karplus sei ein humorvoller Redner, sagt Kaupp, und freut sich, dass endlich wieder Theoretiker den Chemienobelpreis bekommen haben. Das zeige die gewachsene Rolle der Theorie, Simulation und Modellierung innerhalb der Chemie.
Die Karplus-Gleichung, die der 1930 in Wien geborene Nobelpreisträger entwickelte, sei heute ein Routinewerkzeug in der Kernspinresonanzspektroskopie. Als entscheidenden Beitrag von Karplus sieht es Kaupp an, dass dieser die Quantenmechanik in die Berechnungen einführte und mit molekularer Mechanik koppelte. Dies wird salopp als QMMM (Quantenmechanik-Molekülmechanik) bezeichnet, eine Methode, die Kaupp heute in seiner Vorlesung lehrt und zum Standardwerkzeug bei der Berechnung biologischer Systeme zählt.
Der Ausgangspunkt von QMMM ist die Überlegung, dass es zu kompliziert sei, ein großes Protein komplett mit quantenchemischen Methoden zu berechnen. "Zu komplex, zu viele Atome, zu großer Rechenaufwand, da stirbt man den Heldentod", sagt Kaupp. Die clevere Idee der Nobelpreisträger war es, den aktiven Teil des Biomoleküls eigens zu berechnen. Dort findet die Reaktion statt, werden chemische Bindungen gebrochen und neu gebildet. "Dieser Teil des Proteins lässt sich nicht nach klassischen Kraftfeldern berechnen", erklärt der Berliner Chemiker. Dem klassischen Modell zufolge sind Moleküle aus kugelförmigen Atomen aufgebaut, die Bindungen zwischen ihnen werden als Federn betrachtet. Das sei wenig realistisch, sodass die Quantenmechanik hinzugezogen werden müsse, sagt Kaupp.
Doch die Quantenmethode ist zu kompliziert, um ein ganzes Enzym, einen DNA-Strang oder auch eine organische Solarzelle zu beschreiben. Der Trick besteht nun darin, den interessierenden aktiven Teil aus vielleicht 100 oder maximal 200 Atomen quantenmechanisch und den Rest als klassisches Kraftfeld mit Federn und Kugeln zu behandeln. Wichtig ist es, die verschiedenen Teile richtig zu koppeln und etwa elektrostatische Wirkungen oder die Bildung von Wasserstoff-Brücken zu berücksichtigen. All dies erfordert große Rechenkapazitäten. Den richtigen Algorithmus dafür auszuarbeiten, ist komplex und langwierig.
Damit ist man heute im Vergleich zu den siebziger Jahren, als die jetzt vom Nobelkomitee gewürdigten Forscher ihre grundlegenden Arbeiten machten, viel weiter. Die theoretischen Chemiker bemühten sich heute zudem, die Dynamik zu verbessern, etwa die Bewegung der Atomkerne einzubeziehen, sagt Knaupp. An der TU Berlin gibt es die nötigen Rechnerkapazitäten, am Institut werden Parallelrechner eingesetzt, um die Schnappschüsse einzelner Reaktionsschritte zu kleinen Filmen zusammenzufügen. Doch selbst mit den heutigen riesigen Rechenanlagen stößt man an Grenzen. "Die Natur ist beliebig komplex", sagt Kaupp.